Verfasst von Martin Hess
11 Merkpunkte zur Kirchenreform aufgrund von Erfahrungen aus dem «Gemeindeaufbau»:
- Wer von «Kirchenreform» spricht, spricht eigentlich davon, wie man aktive oder wenigstens passive Mitglieder der Kirche dazugewinnen oder wenigstens bei der Stange halten kann. Auch nur um den Mitgliederschwund aktiver und passiver Mitglieder abbremsen zu können, braucht es einen Zugewinn an Mitgliedern. Die Abgänge erfolgen von selbst.
- Dieses Ansprechen, positiv Berühren und Hinzugewinnen von Menschen kann im Wesentlichen nicht auf der Ebene der Landeskirche und auch nicht innerhalb traditioneller, kirchlicher Strukturen geschehen, sondern nur an der Front, in den Ortschaften, Städten und Quartieren, da wo die Menschen leben, zu Hause, an Arbeitsorten und bei Freizeitaktivitäten und auch in sozialen Medien. Die Landeskirche kann die dazu nötigen Aktivitäten allenfalls subsidiär mit Geld und Know-how unterstützen.
- Um einen ersten, zaghaften «Return» von kirchlich bisher nicht aktiven Menschen zu erhalten, muss man sie direkt, persönlich mehr als dreimal positiv berühren, ansprechen, ihnen etwas schenken und ihnen konkrete Angebote machen, die ihnen etwas bringen. Ein vakanter Sitz in der Finanzkommission oder der Kirchenpflege gehört eher nicht zu diesen Angeboten, wenn sie erst ein paarmal irgendwo im Umfeld der Kirche in Erscheinung getreten sind.
- Dieses persönliche, positive Ansprechen und Berühren der Menschen ist eine gemeinsame Aktivität. Es ist nicht der einzelne Mensch, sondern die Gemeinschaft und die gemeinsame Aktivität, die überzeugend und einladend sind. Es genügt nicht, wenn die Pfarrerin und der Sozialdiakon nur mehr Hausbesuche und «Seelsorge» machen. Das kann höchstens ein vorbereitender oder zusätzlicher Teil davon sein. Für sich allein genommen, bringt es nichts.
- Es genügt auch nicht, wenn jemand einmal ein erfolgreiches Projekt gemacht hat und damit 60 Leute als Besucher zählen und vielleicht erfreuen konnte, von denen man die meisten bis dahin «noch nie in der Kirche gesehen» hat. Mit so etwas zu bluffen und zu meinen, damit habe man den Durchbruch geschafft und allen gezeigt, wie man es machen muss, ist ein Irrtum. Das kann höchstens ein kleines Schrittlein in der richtigen Richtung gewesen sein, das durch viele ähnliche, ergänzende und weitere Projekte und Schritte vermehrt, verbreitet und bestärkt werden muss. Dazu kommen und schon bereitstehen müssen dann eben auch die gemeinschaftlichen Folgeangebote, die den Menschen «etwas bringen», d.h. primär ihre Bedürfnisse, aber auch die Bedürfnisse einer lebendigen, christlichen Gemeinde bedienen, aber nicht nur diese, womöglich noch eingeengt nur auf «mehr Gottesdienstbesucher».
- Diese ersten, gewinnenden Aktivitäten, um Menschen auf eine aussergewöhnliche, unerwartete Art ansprechen zu können, finden tendenziell eher nicht in den üblichen, kirchlichen Strukturen und Räumen statt, sondern ausserhalb derselben – bei den Menschen draussen, an ihren Orten.
- Gute Angebote zu machen, nützt nichts. Die «Kunden» kommen nicht mehr von selbst, nicht einmal, wenn unsere guten Angebote eigentlich ihren Bedürfnissen entsprechen würden. Sie erwarten das gar nicht mehr. Wir müssen die «Kunden» sozusagen neu «akquirieren», ihr Interesse erst wecken und sie ihrer Bedürfnisse bewusst machen, um unsere guten Angebote präsentieren zu können. Es ist darum zuerst eine Geh- und Bringstruktur, die – von innerhalb der Kirche aus gesehen – in der Aussenwelt stattfindet.
- Der «Mister Churchman» (Pfarrer, Sozialdiakon) oder die «Misses Churchwomen» (Pfarrerin, Sozialdiakonin) sind wahrscheinlich nicht die besten «Akquisiteure», weil sie für die Aussenstehenden schon mit dem negativ konnotierten Nimbus «Kirche» daherkommen. Etwas neutralere, gewöhnlichere Menschen haben für einen möglichst niederschwelligen Kontakt die besseren Voraussetzungen.
- Diese gemeinsamen, koordinierten und gezielten Aktivitäten und Anstrengungen einer Gemeinde, die wachsen möchte, kann selbstverständlich nur von den aktiven, auf eine Art «praktizierenden» Christinnen und Christen ausgehen, ob Mitglied der eigenen Kirche oder nicht! Schon für ein erstes Projekt wird man mindestens ein halbes Dutzend motivierter Leute brauchen – und dann bald zwei-, dreimal mehr.
- Die verantwortliche, strategische Leitung liegt bei der Gemeindeleitung aus Behörde, allenfalls einer Stabstelle («Gemeindemanager») und den ordinierten Diensten. Diese muss dafür sorgen, dass alle für ein gutes Gelingen des gesamten Vorhabens nötigen Mittel, Gaben und Fähigkeiten vorhanden sind, sei es bei den professionellen Angestellten oder durch hinzugezogene Freiwillige. Die ausführende Projektleitung kann auch an eine Kommission oder Arbeitsgruppe delegiert werden.
- Der «Lead» bei der Kirchenreform darf nicht von der Logik der Bürokratie, Administration oder der «Finanzbürokratie» ausgehen. Ihre Logik eignet sich für das blosse Verwalten und hält den weiteren Niedergang niemals auf. Gefordert ist vielmehr unternehmerisches Denken und Handeln in allen Dimensionen.
Verfasst von Martin Hess
der inhalt, durch den das interesse geweckt werden soll, sollte allerdings übereinstimmen mit dem inhalt, um den es dann geht. unternehmerisches denken in verbindung mit theologischem denken. unter berücksichtigung dessen, dass möglicherweise ein neuer wind weht.
Nach-Gedanken zu meinem Erstkommentar:
*bei #11, dem Plädoyer für ‚unternehmerisches Denken & Handeln in allen Dimensionen‘ sträubt sich etwas in mir..
Könnte es sein, dass
1) Jesus ev. eher drüber lächeln würde?
2) der Projekt-Ansatz zu ‚admin-trocken‘ ist fürs Wieder-anfachen des spirituellen Feuers?
3) die Idee der ‚Strategie‘ [aus Kriegführung stammend, d.h. darauf abzielend, eine Gegnerschaft zu überlisten & zu besiegen] auf ‚Emphathie-freiheit’ basiert & sich dadurch nur bedingt eignet für Gemeinschaftsaufbau & der Ursprungsidee (‚wir Menschen haben mehr gemeinsam als uns trennt‘) widerspricht (?!)
Mit Strategie meine ich in diesem Zusammenhang ein überlegtes Vorgehen nach einem realistischen Plan, um möglichst zu erreichen, was unsere Aufgabe ist, das Weitertragen des Evangeliums. Klar gehört dazu primär die theologische Reflexion und die Reflexion im Gebet. Die Merkpunkte sind nicht ein Projekt, sondern möchten die Rahmenbedingungen für den zu gehenden Weg benennen. Auch Jesus ist nicht kopflos und nicht naiv vorgegangen, sondern reflektiert im Gebet Gottes Willen gefolgt. Überzeugend für die Menschen ist nicht die Attraktivität irgendeines Projekts, sondern die Zeugenschaft derjenigen, die ihm gemeinsam ebenso planvoll und konkret nachfolgen.
Danke, Martin Hess, für diese 11 Punkte, die
*warnen vor administrativem Aktivismus
*plädieren für Kirche, die zu Menschen geht
*warnen vor Überheblichkeit
*verweisen auf die Notwendigkeit, Menschen in ihrem Alltag, bei & mit ihren Bedürfnissen glaub-würdig abzuholen (!!)
M.E. ist dies ein Marathon-Projekt, das nur funktioniert, wenn
*Amtsträger:innen gute Innenschau pflegen *Kirchgemeinden Räume schaffen, in denen
A) Austausch auf Augenhöhe leb- & erfahrbar ist
B) Begegnungen möglich sind oder werden
C) Konventionen & Rituale dem Würde-test unterzogen werden [fördern oder untergraben sie das Augenhöhe- & Würde-Prinzip?]
D) der Mut gedeihen kann, Neues zu probieren
Ich merk‘, dass ich in [Predigt-] Fahrt komme.
Sonnige Adventsgrüsse allen, die dies lesen 🙂