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Sind Geschichten wahr?

Foto: Sind Geschichten wahr?

Früher kam ich des öfteren beschwingt und gestärkt aus dem Kino. Die Welt war wieder in Ordnung gebracht, das Gute hatte gesiegt. Die Story des Spielfilms war meistens erfunden, die Stunt- und Tricktechnik hatte mir Wahrnehmungen ins Hirn gezaubert, von denen ich wusste, dass sie nicht real waren.

Geschichten können mich in ihren Bann ziehen und sogar gefangen nehmen. Besonders riskant ist die Lektüre von Texten aus Büchern, die als heilig gelten. Wie viele Menschen finden etwa in biblischen Geschichten Aussagen und Beschreibungen, aus denen sie sich nicht mehr lösen können, so dass sie Sätze aus ihren liebgewordenen Geschichten endlos Wort für Wort wiederholen, ohne zu merken, dass sie nicht in einem festgeschriebenen  Buch, sondern in einer lebendigen sich stets verändernden Welt leben?

Geschichten sind Lebenszeugnisse. Sie haben mehr zu tun mit Atmen als mit Festschreiben.

Geschichten wecken Erinnerungen, schaffen die Möglichkeit, Alltagserlebnisse daran anzuknüpfen, oder machen Mut, Alternativen zur aktuellen Wirklichkeit auszuprobieren. Dieselbe Geschichte zweimal erzählt ist nicht dasselbe. Es gibt Geschichten, die man jeden Tag neu erzählen kann, die aber jeden Tag neu und überraschend zu mir sprechen.

Sind Geschichten wahr oder erfunden? Ich würde sagen beides. Aber ich würde betonen, dass Geschichten nie buchstäblich wahr sind, und dass man Geschichten auch in Varianten erzählen darf. Allerdings muss ich auch so ehrlich sein und zugeben, dass ich die Geschichte aus meiner Perspektive erzähle und sie nur meinen aktuellen Blick wiedergibt.

Geschichten sind Lebenszeugnisse. Sie haben mehr zu tun mit Atmen als mit Festschreiben. Sie treten in Beziehung zu meinen bisherigen Erfahrungen und erweitern meinen Horizont, machen Mut und zeigen mir, dass ich nicht allein auf dieser Welt bin.

 

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Verfasst von Simon Pfeiffer

Als ehemaliger Gemeindepfarrer auf der Fachstelle Pädagogisches Handeln, als miterziehender Vater in Teilzeitanstellung, als christlich geprägter Theologe mit Islamwissenschaftsstudium und Germanist mit Vorliebe für Mittelalter, Krimis und Fantasy lese und höre ich vielerlei. Gerne erprobe ich neues Wissen im Dialog. Und sehr gerne denke und spüre ich über Grenzen hinweg. Ich arbeite mit in der Arbeitsgruppe 1 "Inhalt und Botschaft".

1 Kommentar

  1. entscheidend ist, finde ich, dass wir wahrheit und unwahrheit nicht auf exaktwissenschaftliche verifikation und falsifikation einengen. ob eine geschichte wahr ist, entscheidet sich nicht (nur) daran, ob sie sich tatsächlich zugetragen hat oder erfunden ist, sondern (auch) daran, ob sie die wahrheit sagt. lesen wir einen text, neigen wir dazu, zu denken zu beginnen. nicht immer zu wenig. offenbarung kann aber auch bedeuten, ein wort unmittelbar zu verstehen. sowohl dieser wie der historische zugang bergen gefahren. in beiden stellt sich schlicht die frage nach der wahrheit. nach einem kinobesuch fand ich mich oft in trance und fragte mich, wie das möglich sein könnte, das dieser zustand nicht mehr aufhört. „krise als chance“, wird gesagt. „oder als trance?“ stellt sich mir die frage. ins kino gehe ich seit 1993 nicht mehr. aus demselben grund, wie ich seit ungefähr damals nicht mehr in die kirche gehe (unverträglichkeitsreaktion auf moderne lautsprecheranlagen, antitrance).

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