Verfasst von Stefan Siegrist, Pfarrer der Kirchgemeinde Spreitenbach Killwangen und langjähriger Präsident der Geschäftsprüfungskommission der Synode
Die zwei grössten Fusionsmissverständnisse
Die Idee einer «Grossfusion» in der Aargauer Landeskirche ist ein echter Befreiungsschlag, weil sie mit zwei hemmenden Missverständnissen über Fusionen aufräumt. Bleiben diese bestehen, droht ein über viele, viele Jahre andauernden Fusionskreislauf nach dem Motto «Nach der Fusion ist vor der Fusion».
- Missverständnis 1: Fusionen finden zwischen Nachbargemeinden statt. Man kann sich seine Fusionspartner deshalb höchstens begrenzt aussuchen und muss warten, bis sie bereit sind.
- Missverständnis 2: Für eine Strukturreform unserer Kirche braucht es zuerst aufwendige rechtliche Anpassungen. Bevor wir etwas unternehmen, müssen wir diese abwarten.
Zum 1. Missverständnis: Nachbarn müssen nicht zwingend zusammenpassen
Was für zwischenmenschliche Beziehungen sonnenklar ist, gilt auch für Kirchgemeinden: Nur weil sie Nachbarn sind, müssen sie nicht auch zusammen passen. Neben den rein sachlichen Strukturthemen, haben Fusionen eine ganz entscheidende emotionale Komponente. Während sich das Strukturelle mit etwas Anstrengungsbereitschaft relativ einfach lösen lässt, ist das Emotional-Kulturelle absolut bestimmend dafür, wie aufwendig eine Fusion wird. Hier entscheidet sich, ob sie überhaupt gelingt und Früchte tragen kann, oder ob sie vielmehr über Jahre einen Grossteil der sowieso schon knappen Ressourcen verschlingt.
Der Weg der Visionäre
Der Prozess zu nur einer Kirchgemeinde im Kanton ist kein einmaliger Sprung, sondern ein Weg, der Schritt für Schritt zu gehen ist. Er beginnt mit drei bis sechs visionären Kirchgemeinden, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, und heute bereits handeln wollen, anstatt vorerst mal abzuwarten.
Bestehende Aufgaben am richtigen Ort erledigen
Diese visionären Gemeinden haben erkannt, dass sehr viele Aufgaben einer Kirchgemeinde zwar innerhalb der eigenen Struktur aber deswegen nicht zwingend auch unmittelbar lokal vor Ort erledigt werden müssen – und dies im Sinne eines verantwortungsbewussten Umgangs mit den (noch) vorhandenen Ressourcen auch nicht sollten. Diese Gemeinden erkennen, wie hoch die Effizienzgewinne sind, wenn solche Aufgaben gebündelt, anstatt x-mal einzeln erledigt werden: Personaladministration, Finanzen, Immobilienverwaltung, Besetzung von Ämtern, strategische Planung und vieles mehr.
Kritische Grösse für neue Aufgaben
Diese visionären Gemeinden haben weiter erkannt, wie viele Aufgaben an der unmittelbaren Basis des Gemeindelebens in Zukunft nicht mehr nur vor Ort stattfinden können, sondern durch die einschneidenden Veränderungen unserer Lebenswelten in viel grösseren und auch anderen Räumen zu denken und anzugehen sind – Räume, die heutige, kleinflächig strukturierte Kirchgemeinden überfordern und darum bereits jetzt kirchlich weitgehend brach liegen. Die Lebensräume moderner Menschen sind geprägt von einer enormen Mobilität – tagtäglich, im Lebenslauf, sozial, beruflich, … – sowie durch stark veränderte und auch gänzlich neue Formen von Beziehung: soziale Medien, Patchwork, Individualisierung, LAT, FWB etc. … Antworten auf diese neuen Gegebenheiten lassen sich nicht in einzelnen kleinen und sowieso schon bis an die Grenzen belasteten Strukturen finden, sondern nur in grösseren Kontexten mit einer gewissen Bandbreite an Ideen, Impulsen, Fähigkeiten, Erfahrungen und Fachkenntnissen. Es braucht hier eine kritische Grösse, die heute wohl kaum noch eine Kirchgemeinde für sich alleine aufweist. Zudem sind sowohl besonders aufwendige als auch besonders spezialisierte Angebote nur in grösseren Kontexten realisierbar.
Gestaltungsspielraum, Effizienz und Zielpublikumsnähe
Entscheidend ist hierbei, dass alle diese Aufgaben – ob Backoffice oder Basisarbeit – bei einer Fusion nicht unter erheblichem Verlust von Gestaltungsspielraum an eine übergeordnete Instanz wie die Landeskirche delegiert werden, sondern in weiterhin eigener Verantwortung einer Kirchgemeinde effizient und zielpublikumsnah angepackt werden können.
Distanz ist kein entscheidender Nachteil
Schnell wird argumentiert, dass eine Fusion zwischen nicht benachbarten Kirchgemeinden aufgrund der räumlichen Entfernung problematisch sei. Doch dieser Hinweis greift zu kurz.
- weil diese Problematik bereits bei Nachbarkirchgemeinden nicht zwingend zentral gelöst werden kann. Nach der Fusion der Nachbarkirchgemeinden Spreitenbach-Killwangen und Wettingen-Neuenhof werden Angebote vor Ort in Wettingen einen 1. Klässler oder eine nur eingeschränkt mobile Seniorin aus Spreitenbach trotz ursprünglicher kirchgemeindlicher Nachbarschaft kaum erreichen.
- werden mobilitätsorientierte und digitale Angebote zunehmend wichtiger, während das Publikum an Angeboten vor Ort tendenziell fast überall abnimmt. Um der Zukunftsfähigkeit der Kirche willen ist es deshalb zwingend nötig, nicht aus reiner Gewohnheit in den Strukturen einer zu Ende gehenden Ära verhaftet zu bleiben.
- bedarf der in dieser Diskussion besonders relevante Backofficebereich keiner lokalen Verankerung und kann bei einer effizienteren, weil professionalisierten Ausgestaltung bei Angestellten, Ehrenamtlichen und Freiwilligen an der Basis sehr viele Ressourcen freisetzen, die dann wiederum der Kreativität und der Innovation im kirchlichen Leben zugute kommen und unsere Institution stärken.
Zum 2. Missverständnis: Es braucht keine neuen rechtlichen Grundlagen
Schon jetzt sieht das rechtliche Fundament unserer Kirche Gemeindefusionen vor. Wie gut diese Grundlagen funktionieren, hat gerade erst vor Kurzem die erfolgreiche Fusion zur Kirchgemeinde Lenzburg-Hendschiken-Othmarsingen bewiesen.
Die Verhinderer aussen vor lassen
Ohne abzuwarten, bis Gegner, Zögerer, Bedenkenträger oder Schönfärber in der unmittelbaren Nachbarschaft zu (vermutlich zähen) Verhandlungen bereit sind, können innovative Kirchgemeinden bereits heute Gespräche beginnen und ihre Ressourcen und ihre Innovationskraft bündeln.
Geplante Offenheit für Eigenheiten
Diese Gemeinden werden ihren Fusionsvertrag von Anfang an so ausgestalten, dass er weitere Mitglieder einfach integrieren lässt. Der Einbezug dieser Perspektive von Anfang an sichert eine Ausgestaltung, die lokalen, regionalen, kulturellen und spirituellen Eigenheiten Rechnung trägt. Anders als bei einer Delegation von Aufgaben an eine höhere Hierarchieebene wird dort, wo nötig, eine lokale Verankerung immer im Blick und somit gewährleistet sein. Die kirchliche Arbeit kommt dadurch näher zu den Menschen, als wenn Aufgaben (und damit immer auch Gestaltungsmöglichkeiten) auf dafür nur bedingt geeignete höhere Hierarchieebenen wie Dekante oder Landeskirche verschoben würden.
Attraktion vs. Pflichtfusion
Bewährt sich dieses Modell, wird es andere Kirchgemeinden überzeugen und anziehen. Und weil die Grundlagen von Anfang an offen für weitere Mitglieder ausgestaltet wurden, lässt sich diese Aufnahme vergleichsweise einfach realisieren.
Der Sog, den das funktionierende Modell entwickeln kann, ist eine grosse Stärke dieser Idee gegenüber anderen Vorschlägen, wie der regionalen Einteilung des Kantons in eine tiefe Anzahl grosser Gemeinden z. B. entlang der heutigen Dekanatsgrenzen. In solchen Pflichtfusionen rauben Unwillige den Innovativen an anderer Stelle dringendst benötigte Energie. Das hat sich in Kirchen mit verordneten Fusionen gezeigt, wo diese mit Machtkämpfen, Aversionen, Blockaden, Fehlentscheidungen etc. einhergingen. Wo willige Gemeinden fusionieren, konzentrieren sie sich auf Synergie und Innovation anstatt auf Gärtli-Politik und Machtfragen. Erste misslungene Fusionen der letzten Jahre werden hingegen in einem weiteren energieraubenden und das kirchliche Leben lähmenden Prozess bereits wieder rückgängig gemacht.
Das Ziel «nur eine Kirchgemeinde im ganzen Kanton» muss bei niemandem Befürchtungen einer Zwangsfusion wecken. Kirchgemeinden, die ihre Aufgaben selbständig erfüllen wollen und auch können, gehen einfach ihren eigenen Weg, solange ihnen das neue Modell nicht zusagt – oder sie entwickeln sogar Alternativen!
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Die aktuell dringlichste Frage lautet: «Wie geht es jetzt weiter?» Jeder Weg beginnt mit dem ersten Schritt. Dieser bedeutet hier, dass für mutige Veränderungsschritte offene Kirchgemeinden miteinander in Kontakt treten und ausarbeiten, wie eine solche überregional strukturierte aber lokal verwurzelte Kirchgemeinde aussehen soll, welche Freiheiten an der Basis vor Ort – sei dieser in einem Dorf, online oder unterwegs – nötig sind, was gemeinsam zu entscheiden und organisieren ist, und welche Bereiche ganz ins professionelle Backoffice verlagert werden. Je früher diese Diskussion beginnt, umso schneller werden sich Lösungen entwickeln, die die kirchliche Arbeit von der aktuell immer schwerer werdenden strukturellen Last befreien.
Mit der Idee, Fusionen grossräumig zu denken, steht ein sofort gangbarer Weg zur Verfügung, bestehende und auch durch die gesellschaftliche Realität neu gestellte Aufgaben gemeinsam auf Ebene Kirchgemeinde anzugehen.
Für den idealen Startzeitpunkt der Diskussion gilt folglich: «Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Verfasst von Stefan Siegrist, Pfarrer der Kirchgemeinde Spreitenbach Killwangen und langjähriger Präsident der Geschäftsprüfungskommission der Synode
Zu den drei Punkten bei «Missverständnis» 1:
1. Diese Argumentation suggeriert, dass es wegen der nötigen Fusionen ohnehin nicht zu verhindern ist, dass Erstklässler und eingeschränkt mobile Senioren eigentlich nicht mehr Teil des Gemeindelebens sein können. Das hinkt aber: einerseits sollte man als Gemeinde in der Lage sein, möglichst alle einbinden zu können, und zwar so gut es geht physisch (Digitale Angebote sollten komplementär, nicht substituierend sein). Andererseits finde ich die Strecke Killwangen-Wettingen keine unmögliche Distanz, auch nicht für eingeschränkt mobile Personen. Dies als Grund zu verwenden, dass Distanz demnach irrelevant ist, geht für mich nicht ganz auf.
2. Dem gebe ich grundsätzlich recht. Bestehendes sollte immer hinterfragt und ggfs. angepasst werden.
3. Wenn man Ihren Vorschlag einer Grossgemeinde im Aargau skaliert, ergäbe das dann nicht einen Verwaltungsapparat, der im Grunde mit demjenigen im Stritengässli konkurriert? Wenn es bei der Grossfusion hauptsächlich um Fragen der Verwaltung geht, dann müsste man überlegen, diese Tasks der Landeskirche abzudrücken. Ich argumentiere hier nicht für diese Option, nur denke ich, dass der Aufbau einer grossen Verwaltung für alle Gemeinden vermutlich nicht im Sinne der Landeskirche ist.
Ich möchte zu bedenken geben, dass viele Familien gerne dort in die Gemeinde gehen würden, wo ihre Kinder auf ihre Klassenkameraden treffen. Dies schafft gerade für die Kinder sehr wichtige Freundeskreise mit anderen, christlichen Kindern. Fusionen könnten dies erschweren.
Dass die Kirche im Dorf ist, ist vielerorts überhaupt noch der Grund für ihre Existenz und deren Akzeptanz in der Bevölkerung. Fusionen könnten auch dies erschweren. Die geographische Loslösung der Gemeinden hätte womöglich eine weitere Entfremdung in der nicht-christlichen Bevölkerung zur Folge. Dies wiederum würde zu weiteren Austritten führen, weniger Angeboten auch in der Grossgemeinde, und wenn ich das zu Ende spinne, haben wir im Aargau noch zwei, drei kleine Gemeinden, die vor sich hinvegetieren, während der Aargau grösstenteils säkular ist. Das ist vielleicht übertrieben – aber ich hoffe, Sie verstehen, wohin ich mit diesem Ansatz will.
Dass eine vollständige Verwaltung in jeder einzelnen Gemeinde teuer ist und deshalb eigentlich fragwürdig ist, ist eine korrekte Beobachtung dieses Vorstosses, aber ich glaube, es packt das Problem nicht bei der Wurzel. Unsere Verwaltung ist zwar teuer – aber das fällt uns nur deshalb auf, weil unsere Kirchen vielerorts leer sind!
Meine Meinung ist, dass wir uns vermehrt um die Verkündigung des Evangeliums kümmern sollten, speziell in unseren jeweiligen politischen Gemeinden. Lokal und überall. Wenn das eine Kontraktion der Kirchgemeinde bedeutet, ein Abbau am Angebot, der Immobilien und angestellten Mitarbeiter, dann muss man das auch als Option ansehen.
Bürokratisch gesehen sind wir in der Landeskirche im Übrigen auch nicht leichtfüssig unterwegs, aber das ist eine andere Diskussion. Sparen könnte man in der Verwaltung sicher.
Spannend!