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Meditatives Bogenschiessen und Kirchenreform

Foto: Meditatives Bogenschiessen und Kirchenreform

Nur wer loslässt, kann sein Ziel treffen: Was bei meditativen Bogenschiessen richtig ist, gilt auch im Kirchenreformprozess.Beim Aargauer Kirchenfest zur Kirchenreform, am 13. September auf der Pferderennbahn im Schachen Aarau, kann auch meditatives Bogenschiessen ausprobiert werden. Der Text geht der Frage nach, was man vom meditativen Bogenschiessen für ein erfolgreiches Projektmanagement lernen kann.

Verfasst von Hans-Peter Ott

Wer Pfeil und Bogen zur Hand nimmt, will ein bestimmtes Ziel erreichen. Doch vorerst steht nicht das angestrebte Ziel im Vordergrund, sondern die Frage, ob dieses Ziel mit den vorhandenen materiellen und persönlichen Ressourcen überhaupt erreicht werden kann. Wer nur über einen schwachen Bogen verfügt, jedoch ein Ziel in 70 m Distanz treffen möchte, sollte dieses Vorhaben möglichst schnell als schönen Traum begraben. Ebenso diejenige Person, welche es konditionell nicht schafft, einen stärkeren Bogen zu ziehen.
Was dann? Entweder die Zielvorgabe anders definieren, damit sie mit dem vorhandenen Material und der körperlichen Kondition erreicht werden kann. Oder aber – bei gleichbleibendem Ziel – sich anderes Material beschaffen und an der Fitness arbeiten. Bei den Bogenschützen heisst es: «Träumen ist schön, aber trainieren hilft weiter!»

Zug- und Druckkräfte

Bogenschiessende sind sich der Tatsache bewusst, dass Ziele – nicht nur im Bogenschiessen – über den Weg des Paradoxons[1] erreicht werden können. Angefangen beim Bogen. Dieser muss in sich sowohl Zug – wie auch Druckkräfte vereinen, damit kinetische Energie entwickelt wird. Auch bei der Umsetzung von Projektezielen sind sowohl Zug- wie auch Druckkräfte von Nöten: Ein Projekt als solches ist seitens der Projektleitung durchzuziehen und hat auf Aussenstehende «anziehend», faszinierend, begeisternd zu wirken. Andererseits hilft bei der Umsetzung oft erst ein Druck von aussen (z.B. terminlich oder gesellschaftlich). Ebenso gilt es bei hinderlichen Einflüssen etwas Druck zu machen, damit überhaupt etwas in Bewegung kommt. Manchmal braucht es einen «Schubser». Wo dieser mangelt, bleibt manches liegen oder wird gar nicht umgesetzt.

Auch auf krummen Wegen ins Ziel

Bekannt ist das «Archer’s Paradox», welches die Tatsache beschreibt, dass ein Pfeil vor dem Abschuss seitlich am Ziel vorbeizeigt, aber dennoch später geradewegs zum Ziel fliegt. Deshalb muss ein Pfeil über ein gewisses Mass an Biegefähigkeit verfügen. Er erreicht also das Ziel nicht in gerader Linie, sondern auf geschlängeltem Weg. Diese Erfahrung hilft bei der Umsetzung von Projekten. Häufig ist ein Ziel nicht direkt zu erreichen – doch damit ist es nicht verloren. Vielleicht muss man sich ihm in einer Schlangenlinie annähern und es, wie ein Pfeil, dennoch treffen. Ein vorheriges Hin- und Her, ein Sich-winden hat nichts mit Schwäche gemeinsam, sondern mit Flexibilität, ohne dass dabei das Ziel aus den Augen verloren wird.

Die Spannung zwischen zwei Polen nutzen

Noch bevor eine Bogner:in einen Pfeil abschiessen kann, gilt es den Bogen zu spannen. Dazu eignen sich verschiedene Methoden wie die Spannschnur, das Durchsteigen oder das «push-and pull» – eine schnelle und materialschonende Aktion. Das Bogenspannen entspricht dem Verbinden von zwei entgegengesetzten Polen, dem oberen und dem unteren Bogenende durch eine Sehne. Dadurch entsteht eine Spannung, welche es ermöglicht, dass der Bogen zu einer Feder wird, welche einen Pfeil abzuschiessen vermag. Eine polarisierte Gesellschaft ist ineffizient. Sie vergeudet ihre Energie im Kampf gegen den Gegner. Der Bogen lehrt, die Gegensätze nicht gegeneinander auszuspielen, sondern durch ihre Verbindung zu einem Dritten, der Spannung, dem Aufbau von Energie, nutzbar zu machen. Eine Bogenschützenweisheit lautet: «Was unter Spannung steht, hat Kraft
Im kirchlichen Kontext ist interessant, wie das Bogenspannen in andern Kulturen «theologisch» gedeutet wird: «Wir Bogenmeister sagen: mit dem oberen Ende des Bogens durchstösst der Bogenschütze den Himmel, am unteren Ende hängt, mit einem Seidenfaden befestigt, die Erde. Wird der Schuss mit starkem Ruck gelöst, besteht die Gefahr, dass der Faden zerreisst. Für den Absichtlichen und Gewalttätigen wird dann die Kluft endgültig, und der Mensch verbleibt in der heillosen Mitte zwischen Himmel und Erde.»[2]

«Meine Grossmutter erklärte, dass der Mond eine Frau ist, und dass sie uns Lakota den Bogen geschenkt hat. … Wie mein Grossvater sagte, erkannte ein Bogenschütze vor langer, langer Zeit, dass er es mit einer Bauweise zu tun hatte, bei der sich die Arme des Bogens gleichmässig bogen oder krümmten. Deshalb hat der Mond uns praktisch und auch spirituell den Bogen geschenkt[3]

Dieser Exkurs verdeutlicht, wie wichtig die Verbindung und nicht das Ausspielen von Gegensätzen ist, um im Leben vorwärtszukommen.

Ein fester und doch flexibler Stand

Jedes Vorwärtskommen beginnt mit dem ersten Schritt. Um überhaupt den ersten Schritt ausführen zu können, muss die Person einmal stehen, nicht am Boden liegen. Deshalb kommt beim Bogenschiessen dem Stand als erstem Schritt eine grosse Bedeutung zu. So heisst es: Mit beiden Beinen, schulterbreit auseinander, Knie nicht durchgestreckt, Gewicht auf beide Füsse verteilt an der Schiesslinie stehen.
Trifft dies nicht auch auf die Umsetzung von Projekten zu? Wie viele Projekte scheitern doch bereits daran, dass die Personen, welche sie verwirklichen wollen, nicht mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Es braucht festen Boden, die Grundlagen der handfesten Tatsachen. Doch wie diese Tatsachen interpretiert werden, ist eine andere Sache. Die einen stehen zu stark auf dem rechten, bzw. dem linken Bein, was beim Bogenschiessen und nicht nur hier, die Zielrichtung und somit die Treffsicherheit massgebend beeinflusst. Überall ist Ausgewogenheit eine Komponente, welche zu einer erfolgreichen Zielerreichung führt. Die nicht durchgestreckten Knie bewirken bzw. verhindern eine Versteifung des Kniegelenks und des gesamten Bewegungsablaufs. Es ist leider das Schicksal von manchen Projekten, dass die bereits in der Anfangsphase ins Stocken geraten, weil dem «beweglichen» Standpunkt zu wenig Bedeutung geschenkt wird. Es braucht einen klaren, eindeutigen Standpunkt an Überzeugung etc. jedoch schadet ihm jede «Verbissenheit», welche ihn der Elastizität beraubt.
Der aufrechte Stand bewirkt, dass bei den späteren Bewegungsabläufen die Muskulatur richtig arbeiten kann und keine Schmerzen durch Muskelverspannungen auftreten. Der aufrechte Stand erinnert an die «senkrechten Schweizer» und hat eine wichtige psychologische Funktion. Eine aufrecht dastehende Person weiss, was sie will. Sie verkrümmt sich nicht aus Angst vor angeblichen Autoritäten, noch richtet sie ihre Fahne nach den Modetrends. Sie ist selbstsicher, weiss um ihre Fähigkeiten aber auch um ihre Grenzen. Der aufrechte Stand, die sichere, bestimmte, selbstbewusste Ausgangslage gehört zu den Vorbedingungen zur Zielerreichung. Jeder Bogentrainer arbeitet zuerst am richtigen Stand, bevor der erste Pfeil zum Fliegen kommt!

Das Ziel nicht frontal anvisieren

Ein weiterer Aspekt des Standes ist die Ausrichtung zum Ziel. Erfolgreiche Bogenschiessende stehen nicht frontal, sondern in einem Winkel von 90° zum Ziel. Diese Haltung ermöglicht erst einen ausreichenden Auszug des Bogens, so dass die nötige Energie aufgebaut werden und der Pfeil ins Ziel fliegen kann. Zudem hat dieser 90 Grad-Winkel historische Wurzeln, welche in der Kriegsführung zu suchen sind. Wer einem Gegner gegenüber steht, muss damit rechnen, dass er von der Gegenseite ebenfalls als Ziel betrachtet wird. Um sich selbst zu schützen, ist es wenig sinnvoll, dem Gegner seine «Breitseite» als Zielscheibe anzubieten. Diese Haltung findet sich auch beim Fechtsport. Was sind daraus für Schlüsse zu ziehen? Bei der Umsetzung von Projekten wird es stets von irgendeiner Seite Widerstand geben. Also nicht im Voraus schon die «verletzlichen» Aspekte präsentieren, sondern sich so positionieren, dass möglichst wenig Widerstände einer erfolgreichen Umsetzung des Projekts im Wege stehen.

Achtsamkeit und sanfte Bewegungen

Nun wird der Bogen von Rechtshändern mit der linken Hand gefasst. Nicht krampfhaft, sondern locker, da er zum späteren Zeitpunkt durch den Zug an der Sehne mit der rechten Hand einem gewissermassen in die Hand gedrückt wird. Er wird waagrecht gehalten und der Pfeil mit der linken Hand mit der Leitfeder nach oben von oben aufgelegt und eingenockt. Die beiden wichtigsten Instrumente sind jetzt einsatzbereit.
Wiederum wird deutlich, dass Bogenschiessen durch eher sanfte Bewegungen charakterisiert wird. Kein krampfhaftes Festhalten. Achtsamkeit beim Auflegen des Pfeils in Bezug auf die Lage der Leitfeder. Liegt diese nicht richtig, verändert das den Pfeilflug. Der leise «Klick» zeigt an, dass die Nocke gut auf der Sehne sitzt und nicht vom Bogen zu Boden fallen wird.
Lockerheit und Achtsamkeit, beides Stichworte, welche bei einer Projektverwirklichung angezeigt sind. Selbst kleine Aspekte bedürfen der Aufmerksamkeit, da die Summe aller kleinen Handlungen ebenso matchentscheidend sein kann wie ein grober, grosser Fehler. Anfänger:innen beim Bogenschiessen «fädeln» den Pfeil oft auf etwas ungeschickte Art und Weise von unten ein, was vielfach eher einem «Gnosch im Fadechörbli» ähnelt. Die Umsetzung von Projekten darf auf keinen Fall umständlich sein. Die Argumente sind so einfach wie möglich darzulegen und vor allem ist den wichtigsten Leitgedanken, wie der Leitfeder, grosse Beachtung zu schenken.

Fingerspitzengefühl

Die Sehne wird nun mit den vorderen Fingergliedern von Zeige. Mittel- und Ringfinger gefasst, wobei der Zeigefinger über dem Pfeil, die andern darunter zu liegen kommen. Je nach Bogenstärke empfiehlt es sich, einen Fingerschutz zu tragen. Mit der Zeit kann der Druck der Sehne zu Taubheitsgefühlen führen.
Bogenschiessen hat also auch mit Fingerspitzengefühl zu tun. Einerseits zu Beginn mit dem Fassen des Pfeils, ohne ihn zwischen den Fingern einzuklemmen und andererseits die Lage der Sehne beim ersten Fingerglied. Später, beim Loslassen des Pfeils bzw. der Sehne zeigen sich die Vorteile dieser Haltung. Wiederum wird sachte die aufgebaute Spannung durch das sanftes Strecken der Finger gelöst, nicht durch deren kraftvolles Öffnen (= verreissen).
Jedes Projekt steht und fällt mit dem «Fingerspitzengefühl». Dies kann weder durch Berechnung noch durch Hinweise auf Statistiken erworben werden. Auf Grund von Erfahrungen lässt sich erahnen (eben ein Gefühl), was es noch «verträgt» oder woran man sich allenfalls die Finger verbrennen könnte. Sanftheit verbinden viele Personen mit Kraftlosigkeit. Dass dem so nicht ist, zeigt das Wasser deutlich auf: Sanft umfliesst es den im Wege stehenden Felsen – und eines Tages hat seine Sanftheit bewirkt, dass der Felsen abgebaut und er bedeutungslos geworden ist.

Zwei offene Augen

Die «Vorbereitungsphase» des Schusses findet ihren Abschluss mit dem Blick auf das Ziel. Man behält den «Gegner» und sein Verhalten im Auge. Man blickt mit beiden offenen Augen (dies im Unterschied zum wettkampfmässigen Schiessen mit Bogen mit Zielvorrichtungen) zum Ziel. Mit beiden offenen Augen «zielen» und gleichwohl treffen, das können viele Personen kaum begreifen. Interessanterweise haben sie damit keine Schwierigkeiten, wenn es um das Ping-Ping-Spiel, Hand- oder Fussball geht. Auch hier wird nicht gezielt. Sondern durch die Auge-Hand (bzw. Fuss)-Koordination sind relativ präzise Treffer möglich. Diese Technik hat gegenüber der Zieltechnik den Vorteil, dass sie auf unterschiedliche Distanzen sofort und ohne Korrektur an der Zielvorrichtung zur Verfügung steht.
Wer auf einem Auge blind ist, bzw. eines oder gar beide vor der Wirklichkeit verschliesst, hat wohl Mühe, das Ziel zu treffen. Nur mit beiden offenen Augen ist es möglich, Distanzen einzuschätzen. Ferner ist das Sichtfeld bedeutend weiter und ermöglicht wahrzunehmen, was links und rechts vom Ziel auch noch so läuft.
Bei der Projektumsetzung ist man selbstverständlich voll und ganz auf dieses fokussiert. Doch ein Blick auf das Umfeld schadet keinesfalls, da Veränderungen im Umfeld des Projekts wahrzunehmen wichtig ist. Neue, äussere und innere Einflüsse vermögen den weiteren Verlauf des Projekts massgebend beeinflussen. Ein Weitblick hat grosse Vorzüge gegenüber einer allzu starken Fokussierung auf das eigene Ziel.

Bottom-up

Endlich, so wie es scheint, geht es ernsthaft wieder um Pfeil und Bogen. Der Bogen mit dem eingenockten Pfeil wird langsam durch Druck der Bogenhand nach vorne und dem Zug des Bogenarms nach hinten langsam von unten bis auf Schulterhöhe angehoben. Push and pull und swing oder deutsch: Vorauszug. Durch leichtes Kippen des Bogens wird der Blick auf das Ziel frei. Noch wird eingeatmet. Es fehlt nicht mehr viel und der «Höhepunkt» ist erreicht!
Bei einem Projekt würde man sagen, es beginnt die «heisse» Phase. Die Vorbereitungen sind alle abgeschlossen. Die Faktoren Zug und Druck bleiben weiterhin wichtig, sie werden noch ergänzt durch eine Bewegung, eine Be-swing-theit von unten nach oben. Erfolgreiche Projekte sind wohl mehrheitlich dem Prinzip Bottom-up gefolgt und nicht dem Top-down. Also ganz nach Bogenschütz:innen Art.

Fehlschüsse vermeiden

Beim Vollauszug erfolgt der letzte Schritt beim Energieaufbau. Die Sehne wird unter Ausatmung so weit zurückgezogen bis der Mittelfinger der Hand, welche die Sehne mit dem Pfeil führt, den Mundwinkel berührt und ein leichtes «smile» hervorruft. Gleichzeitig werden die beiden Schulterblätter gegen die Wirbelsäule gezogen. Die ideale Haltung gleicht einem T: Körperachse senkrecht, Bogen- und Zugarm bilden eine Waagrechte.
Hat ein Bogenschütze das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, so ist dies der Augenblick, den Schuss abzubrechen und wieder von vorne zu beginnen. So wird ein Fehlschuss vermieden.

Vorder- und Rückseite

Durch das Zusammenziehen der Schulterblätter weitet sich die Brust. Man bekommt wieder Luft zum Atmen. Einengung gehört der Vergangenheit an. Alle Dinge haben eine Rückseite. Diese wird meist gar nicht oder eher als negativ wahrgenommen. Die Rückenspannung ist nicht ein vernachlässigbares Anhängsel, sondern ein gleichwertiger Aspekt. Wird er nicht be-RÜCK-sichtigt, ist der Schuss unvollständig.
Die Kirchenreform dient in erster Linie der Selbsterhaltung der Organisation. Das wird von Aussen auch so wahrgenommen. Doch gleichzeitig haben die angestrebten Veränderungen einen Nutzen für die gesamte Gesellschaft. Die Auswirkungen im Background (Rücken) sind gleich wertvoll.

Vertikal und Horizontal: Zum Himmel und zur Umwelt

Die T-Haltung findet sich in den Orante-Haltung, einer uralten Gebetshaltung, wieder. Die Senkrechte verkörpert die Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Die Waagrechte macht die Verbindung zwischen dem Betenden und seiner Umwelt (Mensch, Tier, Natur) sichtbar. Insbesondere kirchliche Projekte sollten dem Rechnung tragen. Nur so verdienen sie den Anspruch auf Ganzheitlichkeit.
Die Schulterblätter stellen einen Bezug zum Rücken her. Bekanntlich heisst es, dass man sein Kreuz auf sich nehmen solle. Jemand sagte einmal: «Nimm wohl dein Kreuz auf dich, aber schlepp es nicht umher!» Wer sein Kreuz, sein Lebensschicksal herumschleppt, hat in den meisten Fällen eine gebückte Haltung. Ganz anders beim Bogenschiessen oder beim Orante-Gebet. Beide zeichnen sich durch eine an-MUT-ige und gleichzeitig auch kraftvolle Haltung aus. Es begegnet einem hier ebenso die alte Mönchsregel «Bete und arbeite». Mit Gottvertrauen das Leben meistern und Projekte gestalten.

Den Bogen nicht überspannen

Der Mittelfinger der Zughand erreicht den Mundwinkel, den Ankerpunkt. Für erfolgreiches Bogenschiessen muss dieser immer gleich sein. Wird der Pfeil vor dem Mundwinkel losgelassen, hat er zu wenig Energie, weil der Bogen nicht voll ausgezogen wurde. Wie heisst es doch: «Aus schlaffem Bogen fliegt kein Pfeil weit!»
Wird er weiter als bis zum Mundwinkel gezogen, besteht die Gefahr, dass der Bogen überspannt wird und zu brechen droht. Wiederum können hier Lehren für das Leben gezogen werden. Es gilt weder den Bogen zu überspannen, was in den meisten Fällen kontraproduktiv ist, noch zaghaft etwas an der Sehne zu zupfen, was einer Halbherzigkeit entspricht und ebenfalls zu einem unbefriedigenden Resultat führt.
Der Anker am Mundwinkel bewirkt eine kraftvoll dosierte, ökonomisch sinnvolle  Energieabgabe. Enthusiasmus wie auch Zaghaftigkeit sind einem Projekt meistens nicht sehr dienlich, weil sie entweder über das Ziel hinausschiessen oder aus Angst einen Fehler zu begehen, stellen sie das «Licht unter den Scheffel».
Mit Gottvertrauen etwas wagen, klingt hier mutmachend an: «Lass den Pfeil im Bewusstsein los, genügend riskiert und das Beste von dir gegeben zu haben.»

Lächeln und Loslassen

Damit Anfänger:innen beim Bogenschiessen richtig ankern, werden sie aufgefordert mit dem Mittelfinger am Mundwinkel ein kleines, kurzes 2-3 Sekunden dauerndes «smile» zu machen. Das Innehalten am Mundwinkel darf nicht ewig dauern, weil der Pfeil losgelassen werden muss.
Werden bei einem Projekt alle Wenn und Aber bis zum St. Nimmerleinstag abgewogen, so stirbt es noch vor seiner Geburt. Innehalten und überprüfen ist o.k. – «tödlich» ein Verharren in der Unentschlossenheit, den Startschuss zu geben. Loslassen im Vertrauen genügend getan zu haben.
Bei der Projektorganisation wird von den Verantwortlichen viel Energie und «Herzblut» eingesetzt. Nicht selten mündet das in einer gewissen «Verbissenheit» der Akteure, welche auf das Zielpublikum nicht unbedingt ansteckend wirkt.
Ein Lächeln in einer entscheidenden Situation wie derjenigen des Pfeillösens zeugt von Optimismus. Fröhlichkeit verbunden mit Gelassenheit. Es strahlt Weisheit aus, die ihren Grund in der Lebenserfahrung hat, dass es auch nach schwierigen Phasen gut herauskommen wird.

Gnade – oder neuer Pfeil, neue Chance

Angst vor einem Fehlschuss ruft kein Lächeln hervor. Daran ist die Kirche nicht unschuldig. Wer Fehler macht, ist ein Sünder. Und wer möchte das schon sein? Doch genau genommen ist dies eine Fehlinterpretation. Sünde – Hamartia ist eigentlich nicht anderes als der «Fachausdruck» für die Tatsache, dass man am Ziel vorbeigeschossen hat. Keine Spur von Moralin, eher von mangelndem Selbstvertrauen oder fehlender Übung. Bei einem Fehlschuss greifen Bogenschützen einfach zu einem weiteren Pfeil, wie es auch Tell gemacht hätte. Sie leben damit vor, was Gnade bedeutet: eine weitere Chance!

Vogelschiessen

Der Pfeil ist losgelassen. Ein Projektstart mit einem Lächeln aus innerer Gelassenheit und Gottvertrauen, was könnte man sich Besseres wünschen? Ja, dann hat man «den Vogel abgeschossen».
Ein Vogelschiessen in der Aargauer Kirche – kaum vorstellbar. In der Antike waren Vogelschiessen auf lebendige Hähne gebräuchlich und in vorreformatorischer Zeit waren im kirchlichen Umfeld Vogelschiessen um Pfingsten üblich, jedoch nicht auf die Pfingsttaube, sondern auf Papageien oder Adler aus Holz oder Pappe. Doch selbst Calvin und Luther, welche doch viele katholische Bräuche abgeschafft haben, liessen das Vogelschiessen weiterhin zu. Nun sitzt der Hahn oft als Wetterfahne auf den Kirchtürmen der reformierten Kirchen. Ist er vielleicht eine Art Mahnmal, dass bald mit der Kirchenreform ein neuer frischer Wind wehen könnte? Oder mahnt er an, das meditative Bogenschiessen nicht zu vergessen bzw. wieder aufleben zu lassen?

 

[1] Es ist eine eigentlich widersprüchliche Aussage, hinter der jedoch eine tiefere Wahrheit verborgen liegt.

[2] Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschiessens / ISBN: 350264280X

[3] Joseph M. Marshall: Die Lehren von Pfeil und Bogen / ISBN E-Book 978-3-86445-411-0

 

 

 

 

Verfasst von Hans-Peter Ott

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Eingestellt von Informationsdienst der Landeskirche

Der Informationsdienst der Landeskirche, Claudia Daniel-Siebenmann und Barbara Laurent, leiten und administrieren den Blog der Reformierten Landeskirche Aargau.

2 Kommentare

  1. „Bei einem Fehlschuss greifen Bogenschützen einfach zu einem weiteren Pfeil, wie es auch Tell gemacht hätte.“ bei tell war es eine besondere situation, weil er gezwungen wurde, einen apfel vom haupt seines sohne zu schiessen. aber andererseits ist es doch oft so, dass wir, anstatt unseren fehler einzusehen, auf andere schiessen. in einem konflikt geht es darum, dass alle beteiligten ihren anteil einsehen und zurücknehmen. manchmal ist es besser, man sagt nur drei viertel. aber trotzdem die frage: „Die Summe aller kleinen Handlungen kann matchentscheidend sein.“ müsste es nicht heissen ihre vereinigung? wenn ich mich frage, wo das bogenschiessen in der schrift begründet ist, komme ich auf das letzte wort des neuen testaments, wie ich es nenne: „alles in allem“. (1kor 15.28) die rückseite des herzens (zen): vorne nach unten, hinten nach oben. „Bottom-up“: wir sterben, werden begraben. so leben wir auf. „wenn dein bogen zerbrochen ist, und du hast keine pfeile mehr, dann schiesse! schiesse mit deinem ganzen sein!“ (zen) wie ich nachschaue, ob ich richtig zitiere: offenbar bin ich nicht der einzige, der an dieses zitat denkt. „es schiesst“, wird gesagt. trotz aller anweisungen: du darfst nichts machen, sonst geht es nicht. soweit wir gestorben und begraben sind, kann das leben sich selbst ereignen.
    https://www.shoto-kempo-kai.de/dojo/dojo-stade/bogenschiessen-stade/

  2. Lieber Hans-Peter

    Danke für deine Gedanken zur Reform 26/30. Du sprichst mir aus dem Herzen.
    Und noch ein Gedanke dazu: Beim Bogenschiessen wünscht man sich «alles ins Gold» wissend darum, dass der eine oder andere Pfeil auch sein Ziel verfehlen wird. Das macht nichts. Man zieht und schiesst erneut – hoffentlich auch bei der Kirchenreform 26/30, wo wohl auch nicht jeder Pfeil bzw. Massnahme gleich ins Gold treffen wird und das eine oder andere auch nachjustiert werden darf. Als ganz wie du schreibst: Keine Angst vor Fehlschüssen!

    Liebe Grüsse

    Christian

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