Verfasst von Lutz Fischer, Synodepräsident und Pfarrer der Kirchgemeinde Wettingen-Neuenhof
Warum es angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen gut wäre, wenn es im Aargau nur eine reformierte Kirchgemeinde gäbe.
Die Zahl der Mitglieder der reformierten Kirchgemeinden geht zurück. Zum einen sind die Austrittszahlen hoch, zum anderen zeigt die Altersstruktur der Mitglieder, dass auch ohne Kirchenaustritte die Zahl der Mitglieder rückläufig bleiben würde. Zudem lässt sich der Trend nicht kehren, da die Ursache langfristige gesamtgesellschaftliche Veränderungen sind.
Neben der sinkenden Mitgliederzahl machen den Kirchgemeinden die rückläufigen Finanzen, das Immobilienportfolio und das schwindende Interesse an kirchlichen Veranstaltungen, Gottesdiensten und Kasualien zu schaffen. Dazu wird es immer schwieriger geeignete Behördenmitglieder zu finden. Stellenkürzungen bei den Ordinierten führen dazu, dass Stellen noch schwieriger zu besetzen sind, als es durch den mangelnden Nachwuchs eh schon der Fall ist.
Ganz zaghaft beginnen die ersten Kirchgemeinden über eine Fusion mit ihren Nachbarkirchgemeinden nachzudenken. So hat sich die Kirchenpflege der Kirchgemeinde Spreitenbach-Killwangen an unsere Kirchenpflege gewandt, um eine mögliche Fusion an die Hand zu nehmen.
Warum ist die Fusion mit einer Nachbarkirchgemeinde keine nachhaltige Lösung?
Die Kirchgemeinde Wettingen-Neuenhof hat zwischen 2016 und 2023 mehr als 1 000 Mitglieder verloren, wobei sich der Trend in den letzten Jahren beschleunigt hat. Die Kirchgemeinde Spreitenbach-Killwangen wird im Laufe des Jahres 2024 die Schwelle von 1 000 Mitgliedern unterschreiten. Mit einer Fusion kann sich Wettingen-Neuenhof mitgliedermässig also maximal für 7 Jahre stabilisieren – also nicht mal für zwei Amtsperioden. Eine Fusion dient aber nicht der Stabilisierung der grösseren Kirchgemeinde, sondern stellt auch neue Anforderungen an die Behörde, die Mitglieder und die Mitarbeitenden. Es ist Rücksicht zu nehmen auf unterschiedliche Kulturen und Traditionen, die Immobilienverwaltung wird komplexer, der Kontakt zu weiteren Einwohnergemeinden ist zu pflegen und die Wege für die Mitglieder und Mitarbeitenden werden weiter.
Der Mitgliederschwund wird jedoch weitergehen, so dass früher oder später die nächste Nachbargemeinde «anklopfen» und um Fusionsverhandlungen bitten wird. Wer sich intensiv und kritisch mit der Mitgliederentwicklung der Kirchgemeinden beschäftigt, wird feststellen, dass die Kirchgemeinden die nächsten 10 bis 20 Jahre vor allem mit Strukturbereinigungen beschäftigt sein werden, wenn sie nicht bereit sind, wirklich gross zu denken. Die Fusion aller Kirchgemeinden im Aargau zu einer einzigen, könnte die Strukturbereinigung auf wenige Jahre beschränken.
Spezialisten gesucht!
Den Pfarrberuf habe ich u.a. ergriffen, weil ich Menschen «von der Wiege bis zur Bahre» begleiten wollte. Pfarrerinnen und Pfarrer sind traditionell Generalisten, die Gottesdienste vorbereiten und mit der Gemeinde feiern, taufen, trauen, beerdigen, unterrichten, Menschen zuhören und Veranstaltungen organisieren. Als die Pandemie das Halten von Gottesdiensten in der Kirche verunmöglichte, wurde so manch einer zum YouTube-Prediger. Aber seien wir ehrlich: Nicht jeder von uns kann alles gleich gut und bei wachsender säkularer Konkurrenz können wir als Kirche nur mithalten, wenn wir nicht nur vieles, sondern alles gut und professionell machen. Contre-cœur bin ich deshalb der Meinung, dass wir Pfarrerinnen und Pfarrer uns spezialisieren müssen. Wer gut unterrichten kann, soll unterrichten, wer gut zuhören kann, soll Seelsorgebesuche machen, wer Predigen als Passion hat, soll predigen und wer Mühe beim Organisieren hat, sollte nicht organisieren müssen.
Die Tiktokisierung der digitalen Welt und damit der Kontakt zu den «Digital Natives» fordert die Kirchgemeinden in einer Art und Weise, die sie nicht professionell ausführen können. Gerade hier, wo es nicht darauf ankommt, woher ein Inhalt kommt, zeigt sich, dass 74 Kirchgemeinden mit 74 unterschiedlichen Konzepten keine Lösung sein können. Die Kräfte müssen gebündelt, Technik und Inhalt professionell gemanagt werden. Auch hier zeigt sich, dass eine Kirchgemeinde, die den ganzen Aargau umfasst, die Mitarbeitenden nach ihren Fähigkeiten und den Notwendigkeiten deutlich effektiver einsetzen könnte.
Behörde professionalisieren
In den meisten Kirchgemeinden ist es schwierig bis unmöglich, die Kirchenpflegen mit geeigneten Mitgliedern zu besetzen. Meist ist man einfach froh, wenn man jemanden findet, der bereit ist, das Amt anzunehmen. Dadurch fehlt neben der Zeit häufig auch die Fachkompetenz, um Personalführung & -planung, Immobilienbewirtschaftung, Finanzen und Buchhaltung zufriedenstellend zu bewerkstelligen, von der strategischen Planung ganz zu schweigen. Eine Professionalisierung ist aus meiner Sicht unabdingbar, um die Probleme bei den Immobilien, der Personalrekrutierung und -führung, aber auch in allen anderen Bereichen, die der Kirchenpflege anvertraut sind, zu lösen.
Die Konzentration auf eine Kirchgemeinde würde viele bisherigen Kirchenpflegerinnen und Kirchenpflegern, die eigentlich lieber Freiwilligenarbeit leisten würden, aber «dem Pfarrer zuliebe» oder «damit wir keinen Kurator brauchen» in der Behörde Einsitz genommen haben, die Freiheit geben, sich in der Kirche so zu engagieren, wie es ihnen entspricht.
Mut zum grossen Wurf!
Jean-Pierre Gallati, aargauischer Regierungsrat, hat in Bezug auf die Zivilschutzorganisationen im September 2024 gesagt «eine mutige Grösse muss auch mehrheitsfähig sein». Dies gilt auch für die Grösse einer Kirchgemeinde. So bleibt abzuwarten, ob der Mut vorhanden und mehrheitsfähig ist, dass alle reformierten Kirchgemeinden im Kanton Aargau zu einer fusionieren. Aber die Diskussion ist hiermit hoffentlich lanciert.
Verfasst von Lutz Fischer, Synodepräsident und Pfarrer der Kirchgemeinde Wettingen-Neuenhof
Endlich!
Sehr geehrter Herr Fischer
Besten Dank für diese Analyse des Problems und den entsprechenden Lösungsansatz. Das System der ehrenamtlichen Kirchenpflegen ist der heutigen komplizierter werdenden Welt nicht mehr zeitgemäss. Die immer kleineren Pfarrstellen-Pensen machen den Beruf unattraktiv oder nur noch für Personen, deren (Ehe)-PartnerIn auch ein Erwerbseinkommen hat (sprich: häufig nur noch für Frauen) attraktiv.
Richtig ist auch die Analyse, dass Fusionen immer dazu führen, dass die neue, etwas grössere Kirchgemeinde mit sich selber beschäftigt ist. Also braucht es einen grossen Schub. Um der Skepsis allem Gegenüber, was von Aarau kommt, vorzubeugen, wäre eventuell die Reduktion auf nicht eine, aber sechs oder acht Kirchgemeinden im Aargau ein Lösungsansatz. Diese wären aber mit einheitlichem Rechnungswesen, Lohnsoftware, GEVER auszustatten.
Korrekt ist, dass dies nicht von oben herab initiiert werden darf. Aber warten auf die Gemeinden, ist auch kein Weg. Hier müsste die Synode ein Projekt lancieren, das NEBEN dem Kirchenrat denken, agieren, vorschlagen darf und muss.
Vor 124 Jahren haben sich mehrere Kirchgemeinden aus Bern zusammengeschlossen, um administrative Arbeiten durch Profis ausführen zu lassen (Gesamtkirchgemeinde Bern). Aber bereits seit 50 (!) Jahren diskutiert man eine engere, verbindliche Zusammenarbeit und im 2025 wird (endlich) über eine Fusion aller Stadtberner Kirchgemeinden abgestimmt. Der Bestand der Reformierten Stadtberner ist von 80’000 auf 40’000 gesunken, aber es gibt noch immer 12 Kirchgemeinden, ab 1.1.2025 noch 11 Kirchgemeinden. Und noch immer wird mit missionarischem Eifer gegen eine kostengünstige Zusammenlegung der Kirchgemeinden gekämpft, weil der eigene Kirchturm mir wichtiger ist als die finanzielle Möglichkeit der Kirche.
Habt Mut, liebe Aargauer Synodale, um gross und weit zu denken! Macht einen Vorstoss mit dem Ziel, im 2034 neue Strukturen zu haben. Nur so hat es dann auch noch Geld, um die kirchlichen Aufgaben wahrzunehmen.
Ralf Pfaff, ehemaliger Finanzverwalter der Landeskirche Aargau
Lieber Lutz, zum einen möchte ich dir für diesen kühnen Vorschlag gratulieren, denn es ist wichtig, auch einmal ganz konsequent in einer Richtung vorzustossen, die noch niemand gewagt hat.
Und deine Skepsis gegenüber Fusionen von Nachbargemeinden kann ich ebenfalls teilen, denn sie verschieben vermutlich in den meisten Fällen die Probleme einfach etwas in die Zukunft.
Allerdings kennst du ja sicher auch die Skepsis der lokalen Gemeinden gegenüber allem, was in Aarau entschieden wird. und eine kantonale Kirchgemeinde würde ja vermutlich in Aarau verwaltet.
Weshalb aber nicht über einen Zusammenschluss der Gemeinden innerhalb eines Dekanats nachdenken? Denn hier gibt es ja bereits Strukturen, auf denen aufgebaut werden könnte. Und hier könnten auch Dienstleistungen wie Personalmanagement Finanzen oder Liegenschaften angeboten werden. Oder natürlich regionale Gottesdienste in vernünftiger Reichweite.
Dieser Mittelweg scheint mir sehr interessant.
Lieber Fritz
Herzlichen Dank für deinen Kommentar. Und ja, ich kenne «die Skepsis der lokalen Gemeinden gegenüber allem, was in Aarau entschieden wird». Es dürfte bzw. müsste aber auch nicht in Aarau entschieden werden und meine Idee bedeutet nicht, dass der Kirchenrat einfach zur Kirchenpflege eine fusionierten Gesamtkirchgemeinde wird.
Fusionen sind Sache der Kirchgemeinden und das könnte durchaus so bleiben. Nachdem ein Pfarrkollege mich konkret fragte, wie ich mir die Herangehensweise an eine solche Fusion konkret vorstellen würde, kam mir folgender Gedanke: Mehrere Kirchgemeinden (grosse sollten dabei sein, aber auch kleine wären erwünscht) könnten miteinander einen Fusionsvertrag erarbeiten, der es weiteren Kirchgemeinden erlaubt, der neu entstehenden Kirchgemeinde beizutreten. Diese Kirchgemeinden müssten territorial auch nicht benachbart sein, sondern nur den Weitblick und den Willen haben, eine Grossfusion anzugehen. Das Ziel müsste sein, die Finanzen, das Personal, die Immobilien, … gemeinsam zu verwalten und eine gemeinsame Strategie zu haben, aber in der Fläche präsent zu bleiben. Die Kirchgemeinden sind ja in ihrer theologischen Ausrichtung, in ihren lokalen Eigenheiten und Traditionen sehr unterschiedlich und kirchliches Leben findet vor Ort statt. Soweit es in den Dörfern und Städten genug engagierte Freiwillige hat, die etwas organisieren und Interessierte, die an solchen Veranstaltungen teilnehmen, sollen sie die Möglichkeit haben. Aber beispielsweise die Ordinierten würde nach ihren Gaben dort eingesetzt werden, wo es sinnvoll und finanzierbar ist.
Lieber Lutz
Zu deiner Anregung zur Spezialisierung der Pfarrer:innen kommt mir das Buch eines Genetikers in den Sinn: Markus Hengstschläger. Die Durchschnittsfalle. Gene – Talente – Chancen. München 2012(9)
Ich kann die Lektüre sehr empfehlen.
Sehr interessante und konsequente Überlegungen. Das ist zu diskutieren. Was sind die Folgen? Ist auch eine einzige Kirchgemeinde pro Kanton mit Spezialisten noch groß genug? Ich habe es bisher immer sehr geschätzt, dass alles mehr oder weniger aus einer Hand kam. Zumindest war es ein überschaubares Team in unserer Kleinstadt.
die nacht erleuchtet die sterne, und die sterne erleuchten wiederum die nacht. das habe ich in meiner jugend einst gesehen. als ich später im turnunterricht neben der aschenbahn lag, sah ich denselben, astrophysikalisch gesehen etwas gross geratenen kern aller religionen und nicht-religionen auch mit geschlossenen augen. wie die sonne, die tags alles überstrahlt, leuchten auch die andern sterne aufgrund von kernfusion, die – mehr als raum und zeit, immer überall – auch in uns geschieht: die kraft, durch die wir mit all den problemen, die sich uns stellen, zu rande kommen. alles in allem. die alles verändernde vereinigung von allem mit allem. das ist die kernfusion der religionen und nicht-religionen, die aufgrund ihres gemeinsamen kerns geschieht, der während ihrer fusion herausgeschält wird. es schadet, finde ich, nicht, eine kirchenreform in einem weiteren kontext zu verstehen. nach der fusion ist vor der kernfusion. interessant, wie heute auch bei durch hochnebel bedecktem himmel alles leuchtet. dieses licht wird sich durchsetzen. das ist die verheissung. und die reform der reformierten kirche aargau, eventuell inklusive des zusammenschlusses all ihrer gemeinden, ein kleines lichtquant von existentiell grosser bedeutung. dass der genannte kern einmal – und vielleicht schon milliarden von mal – so klein war wie das obere oder untere ende einer stecknadel, tut dem allem keinen abbruch: da war er besonders heiss und besonders hell. wir sind aus der fusion zweier zellen entstanden, die beide bereits vor ihrer vereinigung vom tod berührt wurden. der tod des todes und seine verwandlung in leben ist der ermöglichungsgrund der erleuchtenden generalfusion von allem mit allem.