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Sabbatical am Sehnsuchtsort Greifswald

Tauffest am Sotseestrand: Viele menschen, einige Pfarrpersonen im Talar, bedeckter Himmel
Tauffest am Ostseestrand.

Verfasst von Michael Freiburghaus

Nach achteinhalb Jahren Pfarrdienst in Leutwil und Dürrenäsch konnte ich mit meiner Ehefrau Christina das 16-wöchige Summer Sabbatical in Greifswald absolvieren. Mit Freudentränen in den Augen kamen wir nach dreizehnstündiger Zugfahrt von Basel über Berlin an unserem Sehnsuchtsort Greifswald (im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern) an.

Michael und Christina Freiburghaus beim Sabbatical in Greifswald.

Vom atheistischen Ostdeutschland lernen
Die Universitäts- und Hansestadt Greifswald hat 60 000 Einwohner, davon 10 000 Studenten und ist damit eine der jüngsten Städte Deutschlands. Aufgrund der atheistischen DDR-Diktatur inklusive Christenverfolgung glauben im Osten Deutschlands nur noch acht Prozent der Menschen an einen persönlichen Gott (Vergleich Schweiz: 40 Prozent). Zwischen 1959 und 2020 verlor die Pommersche Evangelische Kirche 90 Prozent ihrer Mitglieder. Dramatisch! Wir interessierten uns sehr für diese kirchliche «Zeitreise» und wollten erfahren, was wir jetzt in der Schweiz unternehmen können, um diesen Schrumpfungstrend bei uns zu stoppen.

Als Gasthörer an der Universität
Mit unserem Gasthörerstatus konnten wir sowohl an der Universität Greifswald ein Studiensemester absolvieren als auch selber in der vierstöckigen Bibliothek recherchieren (Forschungssemester). Jeden Mittwochnachmittag kamen wir in den Genuss eines Fakultätsimpulses der Praktischen Theologie zu Seelsorge, Resilienz, Gemeindebau und weiteren Themen.
«Je persönlicher das Gottesbild, desto mehr Einfluss hat der Glaube auf den Alltag! – Wenn jemand den Gottesdienst nicht besucht, stehen die Chancen nur bei zwei Prozent, dass sie/er sich freiwillig in der Kirche engagiert.» So fasse ich die beiden Grundgedanken des Referats des Religionssoziologen Prof. Dr. Detlef Pollack zusammen. Für mich ist dies eine Motivation, weiterhin Gottesdienste gemeinsam mit vielen Freiwilligen zu gestalten, bei denen der biblische Jesus im Zentrum steht.

Neue Gottesdienstkonzepte
Was uns besonders gefreut hat: Neben den klassischen Altstadtkirchen St. Marien (salopp «die dicke Marie» genannt, weil sie einen imposanten Kirchturm besitzt), St. Jacobi sowie dem Dom St. Nicolai, die traditionelle, hochkirchliche Gottesdienste und Konzerte mit bis zu 1000 Besuchern anbieten (high church), lernten wir auch moderne, innovative Gottesdienstkonzepte kennen (low church):

  • Die «GreifBar» ist eine Gemeinde, die von vierzig Studentinnen besucht wird. Sie trifft sich sonntags im Plattenbaugebiet: im Winterhalbjahr jeweils in einer Turnhalle, im Sommerhalbjahr draussen auf einem öffentlichen Spielplatz. Auch Bürgergeld-(Hartz IV)-Empfänger nehmen daran teil.
  • «Nebenan» befindet sich auf der Insel Rügen im Stadtteil Rotensee in Bergen: In einem kleinen Ladenlokal im Plattenbaugebiet mit Raum für vierzig Personen finden wochentags Bibel- und Gebetsstunden statt. Alle zwei Monate wird im nahegelegenen, öffentlichen Park ein eindrücklicher Open-Air-Gottesdienst gefeiert, in dem die Besucherinnen und Besucher während des Gottesdienstes Würstchen und Getränke geniessen können. Daneben gibt es ein buntes Kinderprogramm mit Wettbewerben, Gesichtsschminken, Kreidezeichnungen und vielem mehr.
  • Die Johannes-Gemeinde organisiert fünfmal jährlich nach dem Gottesdienst einen gemütlichen Spaghettiplausch im Kirchgarten.
  • Der Höhepunkt des Jahres war für uns das Tauffest, organisiert von allen evangelischen Kirchgemeinden Greifswalds am Strand von Eldena: 13 Kinder und Erwachsene wurden von zehn Pfarrpersonen in der Ostsee getauft. 150 Besucherinnen und Besucher. Besonders bewegt hat uns die Tatsache, dass auch Alleinerziehende ihre Kinder zur Taufe bringen konnten, ohne sich sozial exponieren zu müssen.

Segensstand vor der Christuskirche in Greifswald.

Schlussfolgerungen für unsere Kirche im Aargau
Angeregt durch diese innovativen Projekte haben wir folgende Schlüsse gezogen:

  • Gemeinsam Kirche sein: Die Kirchgemeinde wird als zweite Familie gelebt. Auch unter der Woche treffen sich die Mitglieder zum Bibellesen, Gebet, Sport am Strand oder zum Fussballschauen. Sie teilen ihr Leben miteinander.
  • Gemeinsam essen: Nach fast allen Gottesdiensten konnten wir nicht nur einen Kaffee (manchmal ein Bierchen), sondern auch ein Butterbrot (Stulle) im Stehen essen. Dazu nahmen alle Brot und/oder Aufstrich selber mit.
  • Den Glauben teilen: Mit einem ausgemusterten Feuerwehrauto, einem Bauwagen oder einem Segensmobil-Veloanhänger werden Menschen kreativ zum christlichen Glauben und in die christliche Gemeinschaft eingeladen und aus ihrer Einsamkeit befreit.
  • Gemeindebau statt Kirchenbau: Statt in Gebäude wird in Menschen investiert. Viele Kirchgemeinden besitzen zwar einen Förderverein für den Erhalt der Kirchengebäude, betreiben jedoch zusätzlich noch Fundraising, um gezielt in kirchliche Mitarbeiter zu investieren.

Ausflüge, Segelabenteuer: Dankbarkeit für die schöne Zeit
Neben weiteren Vorlesungen und Seminaren in Psychologie, Philosophie und Pädagogik, sowie einer Einführung in Film und Fotografie machte uns der Segelkurs mit einer kleinen Ixylon-Jolle auf der Ostsee sportlichen Spass und förderte unsere Geschicklichkeit bei Windstärke 4 (20-28 km/h).
Ausserhalb von Greifswald befindet sich eine malerische Landschaft mit Rapsfeldern und dem Fluss Ryck, der ins Meer führt. Man sieht ständig wechselnde Wolkenbilder. Auch Ausflüge auf die autofreie Insel Hiddensee, nach Berlin, Potsdam, Swinemünde (Polen) und Gedser (Dänemark) bereicherten uns.
Ab dem ersten Sabbaticaltag führte ich ein Medien-Fasten (digital detox) durch und verzichtete während vier Monaten auf Social Media und Kriegsnachrichten. Dadurch nahm ich die vielen positiven Eindrücke viel intensiver wahr: Diese 100 Tage Sabbatical fühlten sich für mich wie ein ganzes Jahr an.
Wir lernten viele Menschen kennen, die eine tiefe Liebe und Leidenschaft für Jesus, die Bibel und die Kirchgemeinde haben. Es war eine der schönsten und intensivsten Zeiten unseres Lebens! Wir sind Jesus sehr dankbar, dass wir unseren Herzenswunsch umsetzen konnten und danken auch den beiden Stellvertretern Pfr. Dr. Christoph Monsch und Pfr. Mario Gaiser, sowie der Kirchenpflege Leutwil-Dürrenäsch, die mit ihrem Einsatz in der Kirchgemeinde Leutwil-Dürrenäsch das Sabbatical ermöglicht haben.

Verfasst von Michael Freiburghaus

 

Am Donnerstag, 31. Oktober, 19.30 Uhr, wird Michael Freiburghaus im Kirchgemeindehaus Dürrenäsch (Lindhübelstrasse 21) von den Erkenntnissen aus seinem Sabbatical berichten.

Bildungkirche bietet auch für 2025, 8. April – 19. Juli, ein Studiensemester in Greifswald an. Anmeldung bis 15. November hier.

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Eingestellt von Informationsdienst der Landeskirche

Der Informationsdienst der Landeskirche, Claudia Daniel-Siebenmann und Barbara Laurent, leiten und administrieren den Blog der Reformierten Landeskirche Aargau.

5 Kommentare

  1. Ermutig, und erinnert, mich noch mehr digital-detox zu betreiben. Danke.

    Bin dadurch erneut erinnert auch gute Nachrichten zu melden und icht nur wenn etwas schreckliches/dummes/negatives passiert.

    Zudem, dass wir alle er mehr Zeit von Angesicht zu Angesicht verbringen sollten… Quartierfeste, Freunde/Nachbarn zum Z’morge Z’nacht einladen oder einfach eine gemeinsame Runde zum Seebankchli zu laufen…

  2. Danke für den ermutigenden Bericht! Ob es das Stichwort „Sehnsucht“ ist, dass der Text so oft gelesen wird? Das gibt Hoffnung für die Ref Kirche! Seien wir neugierig und innovativ auf allen Ebenen. Das wird segensreich sein, da bin ich überzeugt!

  3. windstärke 4, das ist einiges, und so klein ist die ixylon-jolle ja auch wieder nicht. oder gibt es eine mini-version? „im osten deutschlands glauben nur noch acht prozent der menschen an einen persönlichen gott (vergleich schweiz: 40 prozent).“ mehr als person, aber personähnlich – meine meinung habe ich in diesem blog wiederholt dargestellt, zb im kommentar zum vorletzten beitrag. „alles in allem“: eines, sich selbst ursprung. kann als ursprung einer menschlichen person verglichen werden, die etwas schafft, als entsprungenes ihrer schöpfung. die mini-version ostdeutschlands ist vielleicht gar nicht so mini. die metaphorische sprache, die geschöpfliches, personales auf anderes überträgt, offenbart etwas, verbirgt, verdeckt aber auch etwas. soweit das vollkommene kommt, wird dieses unvollkommene abgetan. (1kor 13.9-12, 15.28)

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