Verfasst von Tom Sommer
Es geht weiter mit der nahrhaften und herausfordernden Lektüre im Buch des Theologen Alexander Garth.
Als letztes Stichwort aus der Lektüre erwähnte ich in Folge 1, dass die Selbstreproduktion der Kirche nicht mehr funktioniere. Alexander Garth schliesst daraus für die Zukunft der Kirche, dass sie um die Menschen echt werben muss, die in Auseinandersetzung mit anderen Optionen des Glaubens (wie z.B. Atheismus, Buddhismus, Freikirche xy etc.) eine Entscheidung zu treffen. Da Menschen nach wie vor spirituell ausgerichtet seien, gehe es letztlich nicht um eine Glaubenskrise, sondern um eine Modellkrise – eben wegen der automatischen Zugehörigkeit. Blicke man auf den Ursprung der Kirche, werde der Aspekt der Entscheidung klar: Die ersten christlichen Gemeinschaften bzw. Gemeinden verstanden sich als Gegenentwurf zur aktuellen Bürgergesellschaft, und lebten ihr neues Selbstverständnis entsprechend radikal aus (Würde und Wertschätzung des menschlichen Lebens und diakonisches Engagement in der damaligen Gesellschaft; siehe unten). Als Kontrastgesellschaft möchte der Autor die heutige Christenheit wieder sehen: Eine Christenheit, die sich – mit Tausenden inaktiver Gemeindemitglieder – nicht einfach auf staatliche Gelder und Privilegien verlässt, und.
Ja, bei diesem Stichwort werde ich nachdenklich: Wenn am Sonntag zwei, höchstens drei Prozent der Mitglieder erscheinen, müssen wir uns wirklich Gedanken machen. Frustrierte Pfarrer, wie ab und zu zu lesen ist, sind dann gut zu verstehen. Um den Wurzeln dieser Entwicklung nachzugehen, blendet der Autor zunächst zu den Anfängen der christlichen Bewegung zurück.
Verfolgt, verspottet, verehrt
Global gesehen, so Alexander Garth, gleiche die Situation der christlichen Kirchen heute derjenigen aus der Gründerzeit: unterprivilegiert und in der Minderheit. Schliesslich startete das Christentum am Ostrand des Römischen Reiches als absonderliche jüdische Sekte. Aber allen Erwartungen und Gewaltexzessen zum Trotz: Die junge christliche Bewegung durchdrang das Römische Reich innerhalb weniger Generationen. Wie konnte das geschehen? Alexander Garth fasst seine Gedanken dazu in einigen Punkten zusammen:
- Der neue Glaube – Jesus Christus als Weg zu Gott – sei sowohl anstössig als auch attraktiv gewesen. In der antiken launischen und selbstsüchtigen Götterwelt sei es darum gegangen, deren Gunst zu erwerben und ihren Zorn abzuwenden. Total im Widerspruch dazu: Ein gütiger Gottvater, eine Zuwendung durch Jesus Christus und Liebe zu allen Menschen. Die Verbundenheit untereinander wurde im Symbol des Fisches sichtbar.
- Die Weigerung der Christen, den Kaiser wie gewohnt zu verehren und für ihn zu opfern, führte zu Verfolgung und Martyrium bis in den Tod. Dieser Lebensstil und Standhaftigkeit für den Glauben blieb in der Bevölkerung nicht unbemerkt und wurde bewundert. Dies wird als wichtiger Faktor für das Wachstum der jungen Kirche angesehen.
- Gladiatorenfestspiele waren in der römischen Gesellschaft ein Ausdruck der Verachtung der rechtlosen Sklaven, Ungebildeten und Machtlosen. Wenn sich die Christen versammelten, fanden sich Menschen aller Schichten zusammen, um ihre Zugehörigkeit zu Christus als dem Auferstandenen zu feiern – eine regelrechte Provokation in der damaligen Sklaven- und Ständegesellschaft. Zum Selbstverständnis der christlichen Gemeinschaft gehörte, dass die Frauen einen wesentlich höheren Status als in der nicht-christlichen Umgebung genossen.
- Die generelle Wertschätzung menschlichen Lebens drückte sich auch darin aus, dass Christen von Römern ausgesetzte Babys aufnahmen. In den Augen der Christen waren Kinder ein Gottesgeschenk. Sie stellten sich damit gegen die damalige Rechtslage, die es ermöglichte, sich ungewollter Kinder einfach zu entledigen. Auch Armenfürsorge und Freikaufen von Gefangenen und Sklaven gehörte zumEthos der christlichen Gemeinden. Christengegner Kaiser Julian brachte es in einem Brief wie folgt zum Ausdruck: «Die gottlosen Galiläer ernähren ausser ihren eigenen Armen auch noch die unsrigen. Die unsrigen aber ermangeln offenbar unserer Fürsorge.»
- Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Fürsorge kennzeichnen auch das Verhalten der Christen bei den schlimmen Epidemien während der ersten drei Jahrhunderte: Man kümmerte sich um die von der Pest befallenen Menschen, die oft von ihren eigenen Angehörigen im Stich gelassen wurden. Diese Haltung und die Vermittlung von Gottes Nähe und ewigem Leben waren einzigartig und zog viele Menschen für diesen neuen Glauben an.
Das Zusammenspiel dieser und weiterer Aspekte hat, so Alexander Garth, die Ausbreitung des Christentums im damaligen römischen Imperium bewirkt. Jeder einzelne Christ habe sich – auf diese Weise zumindest praktisch – als Botschafter des Erbarmens und der Liebe Gottes verstanden. Eine Kontrastgesellschaft, deren gelebter Glaube zu einem Markenzeichen geworden war – so stelle ich es mir als heutiger Leser vor.
Wie aus der ursprünglich verfolgten religiösen Bewegung dann sogar eine Staatsreligion werden konnte, das beschreibt Alexander Garth auf den folgenden zwölf Seiten – und ich werde sie demnächst in Folge 3 zusammenfassen.
Verfasst von Tom Sommer
weder suche ich ein christliches, noch ein buddhistisches, atheistische oder theistisches, freikirchliches oder landeskirchliches modell, sondern eines, das alle erwähnten und noch andere in sich vereinigt. das ky im wort kyrios, der herr, der sagt: kehrt um!, erinnert mich an das japanische ku: leere. das um ist die umkehrung des japanischen mu mit der bedeutung „nicht“. wieder umgekehrt wird es zum bekannten om, das mit amen in verbindung gebracht wird. eine launische, selbstsüchtige götterwelt möchte ich nicht. aber es gefällt mir auch nicht, wenn eine kultstätte für jesus über einen tempel für aphrodite, der göttin der schönheit und sinnlichen liebe, gebaut wird. weder der kyrios noch sein vater können sie ersetzen. freilich auch sie die beiden nicht. wie wäre es, wenn gott als jurist, als juristin gar, mensch geworden wäre und mit dem römischen reich eine rechtliche besserstellung von sklaven und aufrührern ausgehandelt hätte? das verstehen von kindern als gottesgeschenk sähe ich gerne kontrastiert durch das buddha zugeschriebene wort: „neues leben, neues leiden.“ dies zu bedenken gehört zu einer ernst zu nehmenden liebe. die botschaft des erbarmens, der barmherizigkeit kann viel bringen, kann aber auch etwas entmündigendes haben. eine kontrastgesellschaft birgt die gefahr des sich besser dünkens. ein überzeugendes umkehren könnte für die kirche auch bedeuten, in dieser vereinigung, nicht summe, von allem unterzugehen. im übrigen: was würde geschehen, würde die sonne statt unterzugehen umkehren?