Verfasst von Tom Sommer
«Aus Sekte wird Staatsreligion»
Unter diesem Titel setze ich den dritten Teil der Lektüre des Buchs «Untergehen oder umkehren» des Theologen Alexander Garth. (Teil 1 und Teil 2)
Für Alexander Garth drängt sich zunächst die Frage auf, wie ab dem 4. Jahrhundert aus der exklusiven Bewegung der Jesusnachfolger, den Christen, eine angepasste Glaubensbewegung werden konnte. Nach den Verfolgungen sei den Christen im Jahr 311 zunächst die freie Ausübung ihres Glaubens erlaubt worden, und ab 313 die eigentliche Gleichstellung mit den traditionell römischen Kulten erfolgt. Diese hätten zunehmend an Glanz und Glaubwürdigkeit verloren. Die Christen hingegen faszinierten mehr und mehr, im ganzen Imperium, vom Sklaven bis zu den kaiserlichen Eliten. Das Ausmerzen des neuen – christlichen – Glaubens sei also definitiv gescheitert gewesen, aber der Pontifex maximus, Brückenbauer und oberster Priester als Mittler zwischen Göttern und Menschen, habe es verstanden, die Religion der gut organisierten Christen nun als neuen einheitlichen ideologischen Überbau für den Staat zu instrumentalisieren. Die damals zunehmend instabile Lage des Römischen Reiches habe dann im Jahr 380 die bis dahin noch mögliche Religionsfreiheit für die alten heidnischen Kulte definitiv beendet. Das Christentum als Staatsreligion mit dem sogenannten Konstantinischen Kirchenmodell war geboren, Abweichlern sei per Dekret mit göttlicher Vergeltung, Strafgerechtigkeit und himmlischem Urteil gedroht worden. Viele alte Heiligtümer seien nun zerstört worden, und religiöse Lehren, die von der offiziellen Lehrmeinung der Kirche abwichen, seien als Staatsverbrechen geahndet worden. Für alle Einwohner des römischen Reiches, ausser den Juden, habe neu die Pflicht bestanden, sich taufen zu lassen. Eine Praxis bis in die Neuzeit hinein, was einer Zwangsrekrutierung zur neuen Religion bedeutet habe.
Von gewählter zu geerbter Religion
Laut wissenschaftlichen Schätzungen seien zu jenem Zeitpunkt rund zehn Prozent der Einwohner des römischen Reiches Christen gewesen. Alle übrigen hätten sich nach und nach taufen lassen müssen. Aber ob jene Menschen damit auch gläubige Christen geworden seien, ist für Alexander Garth eine grosse Frage. Ob sie als Zwangsgetaufte an den dreifaltigen Gott geglaubt hätten, sei wohl eher eine opportunistische Angelegenheit gewesen, um keine Nachteile in der Gesellschaft zu erleiden. Er vergleicht dies mit der Situation der damaligen DDR, wo es zuträglich gewesen sei, aus der Kirche aus- und in die Partei einzutreten (Alexander Garth ist in der DDR aufgewachsen und wurde später ausgebürgert; er kennt sich aus mit ideologischen Zwangsmassnahmen). Es sei plausibel anzunehmen, dass nur wenige Jahrzehnte nach 380 die Kirche zum grossen Teil aus Menschen bestand, die weder gläubig waren noch christlich lebten – wohl eher halbherzig oder heuchlerisch. Somit habe sich die offizielle Anerkennung zur Staatsreligion schliesslich als tragische Niederlage einer authentischen Jesusnachfolge erwiesen.
Mit ihrer «Verweltlichung» habe die Kirche ihre geistliche Kraft der Anfangszeit und ihre moralische Autorität verloren. Aber es habe auch Gegenbewegungen gegeben, nämlich indem kleine geistliche Gemeinschaften und Klöster innerhalb der verfassten Kirche entstanden seien. Als Beispiel wird der Student Benedikt von Nursia erwähnt, der um das Jahr 500 vom kirchlichen und moralischen Sittenzerfall der Stadt Rom entsetzt gewesen sei und schliesslich mit Gleichgesinnten in die Berge zog, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Als Vater des abendländischen Mönchtums (Begründer Benediktiner-Abtei Montecassino) habe er mit seiner Initiative für klösterlich-geistliche Zentren die missionarische Energie des christlichen Glaubens neu belebt.
Aber was passiert ausserhalb solcher Zentren mit den Menschen, die automatisch offiziell dazugehören müssen? Die den Glauben nicht wählen, sondern erben – diese Frage treibt Alexander Garth um. Zu jener Zeit seien die Menschen Gemeinden zugeordnet worden («parochialisiert»), und sakramentalisiert, aber nicht missioniert worden – was ja wegen dem erwähnten Automatismus in einem solch staatskirchlichen Modell überflüssig ist. Deshalb hätte das normale Kirchenvolk oft nur eine oberflächliche Ahnung gehabt, was der christliche Glaube überhaupt bedeutet. Ursprüngliche Identität des Christ-seins sei aber nicht ganz ausgestorben dank immer wieder auftretender einzelner «Aussenseiter», die ein entschiedenes und bewusstes Ja des Menschen propagierten für die Jesusnachfolge. So hätten sich nach und nach Parallelkulturen von einfacher Volksfrömmigkeit, abergläubischen Praktiken und eben entschiedener Christusnachfolge etabliert.
Kontrast verloren, der Macht erlegen
Der Gedanke ist schlüssig, dass die christliche Gemeinde wie eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft im Römischen Reich fungierte. Derart stark, dass das ganze alte Götter-System letztlich zur Kapitulation kam. Aber wie, so die Frage von Alexander Garth, kann eine an Staat und Gesellschaft angepasste Kirche noch ein Korrektiv für die Institutionen sein? Wie kann sie Licht uns Salz sein, wenn sie involviert ist in die Machenschaften des Staates und quasi zur staatstragenden Institution geworden ist? Damit habe sie begonnen, den Staat zu instrumentalisieren, um den christlichen Glauben durchzusetzen. Etwa ab dem Jahr 1000 habe die Inquisition sich voll entfaltet mit vielen Hinrichtungen von sogenannten Ketzern. In den Religionskriegen schliesslich bekriegten sich Protestanten und Katholiken gegenseitig – der Dreissigjährige Krieg stehe da als eines von vielen Beispielen für die Verschmelzung von Thron und Altar, Schwert und Kreuz. Wie kaum eine andere Fehlentwicklung habe dies den Ruf der Kirche nachhaltig geschädigt, dem Christentum generell ein Imageproblem beschert. Die einseitige Fixierung auf diese Verfehlungen habe dann auch zu Überzeugungen geführt, dass eine Gesellschaft ohne Religion eine bessere und gerechtere sei. Die grossen ideologischen Gesellschaftsmodelle Nationalsozialismus und Kommunismus hätten dann aber – einerseits subtil, andererseits ganz offen atheistisch – bewiesen, dass die dabei einhergegangene Mordmaschinerie mit über 100 Millionen Toten doch eine andere Sprache sprechen.
Wahrlich eine interessante Geschichtslektion zum Auf und Ab des christlichen Glaubens. Im nächsten Buchkapitel entwickelt Alexander Garth die These, dass Europa einen latenten Prozess der Immunisierung gegen den christlichen Glauben durchlaufen hat. Ich bin gespannt und melde mich später wieder mit Folge Nummer 4.
Verfasst von Tom Sommer
die elementarste wahrheit nicht unter den teppich kehren, sie nicht umgehen, sondern in ihr miteinander und allem andern umgehen