Verfasst von Tom Sommer
Wird die Kirche heute noch gehört und gebraucht, dient sie der Gesellschaft noch? Um für die Menschen wertvoll und relevant zu bleiben, muss sie neue Wege finden. Das ist der Tenor und die öffentlich kommunizierte Grundüberzeugung, die die Reformierte Kirche Aargau (und nicht nur diese) seit spätestens 2021 umtreibt. Im Prozess «Kirchenreform 26/30» ist schon viel Engagement, Herzblut und Arbeit investiert worden, mit dem Ziel, dass diese Kirche im Jahr 2030 eine andere sein wird. So die Hoffnung, ja die Überzeugung!
Ein Buch hat es in sich.
Nun ist mir ein Buch des deutschen Theologen und Pfarrers Alexander Garth begegnet. Die Titelworte «untergehen oder umkehren» kommen sehr provokant daher. Der Untertitel «Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat», scheint mir definitiv ein Argument zu sein, dieses Buch zu lesen (Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, www.eva-leipzig.de).
Vielleicht kommt es ja zu einem Nachahmereffekt, vielleicht kann daraus sogar Lesezirkel entstehen: Menschen, die über den Inhalt des Buches debattieren möchten? Die rund 220 Seiten gliedern sich in 9 Kapitel, beginnend mit einer Bestandesaufnahme bei den europäischen Kirchen, bevor es dann mit der Geschichte der christlichen Kirchen und den Gründen für den heutigen Zustand weitergeht. Dies alles natürlich aus der Optik des Autors, welche ich nun für mich persönlich versuche einzuordnen und zu beschreiben.
Ist Tradition genug?
Hier also ein erster Gedanke aus dem Buch. Für den Autor stehen die Landeskirchen heute vor einer Zeitenwende. Die spirituellen Bedürfnisse der Leute seien heute nicht weniger geworden, aber die Art und Weise, diese zu befriedigen, sei mit dem aktuellen Volkskirchenmodell kaum mehr möglich. Sein Hauptargument: Der Automatismus, wie man Christ wird: Man erbt die Glaubenstradition der Familie, ist dann eben z.B. reformiert, ohne bewusst diesen Glauben begründet und gewählt zu haben, und oft ohne ihn zu pflegen. Dies klingt plausibel und macht mich neugierig, mehr erfahren zu wollen. Ob das Fernbleiben der frisch Konfirmierten und ihrer Familien in unserer Kirche (ist dies ein verbreitetes Phänomen?) damit zu tun hat? Ich bin gespannt, was ich lernen kann für unsere Kirche. Und ja, mir wird bewusst, dass ein bestimmter Grundpfeiler für den Reformprozesses 26/30 eigentlich nicht angetastet werden sollte: das Volkskirchenmodell an sich. Dennoch lese ich weiter und lasse mich von der Neugier treiben – ganz nach dem Motto meiner naturwissenschaftlichen Herkunft: recherchieren, evaluieren und zur ehrlichen Diskussion stellen. Dagegen ist sicher nichts einzuwenden.
Vererbter oder frei gewählter Glaube?
Laut Buchautor Alexander Garth scheint sich die westliche Kultur von ihren christlichen Wurzeln zu verabschieden, auch wenn die über Jahrhunderte gesammelten Ressourcen an Immobilien, Finanzen und Privilegien darüber hinwegtäuschen, dass sich die spirituelle Substanz verflüchtigt. Damit meint er den Glauben an den dreieinigen Gott und die Faszination an Jesus Christus, den Ursprung und Kern dieser Bewegung. Die Reformation habe zwar erstmalig den Gedanken aufgebracht, dass der religiöse Glaube eine persönliche Entscheidung des Menschen ist (statt automatische Sozialisierung), aber habe sich dann noch nicht wirklich durchsetzen können – der Glaube lag letztlich am regionalen Landesherren. Mit der kulturellen Revolution der Aufklärung, wo auch die Subjektivität des Menschen erwachte, sei ein Entscheidungspunkt gekommen: der Glaube als begründete Option. So sei die Herausforderung heute und für die Zukunft, dass Religion und Glaube gewählt, und nicht geerbt werde. In der offenen und liberalen Gesellschaft, wo der Mensch alles frei wählen könne, müsse dies auch für den Glauben gelten. Und das stelle Fragen an das volkskirchliche Betriebsmodell.
Ja, da bringt mich der Autor schon in eine gewisse Spannung, mich in der Kirche zu engagieren. Aber die Kirche ist ja zum Glück mehr als ein bestimmtes Modell (Volkskirche). So möchte ich zwar die kritischen Aspekte wahrnehmen, aber auch lernen, wie in den volkskirchlichen Strukturen frischer Wind wehen könnte, wohl mit zu diskutierenden Anpassungen. Für den Autor liegt dann sogar drin, dass die beste Zeit der Kirche erst noch kommt. Grund: ein individuell, aus einer Fülle von weltanschaulichen und religiösen Angeboten begründeter Glaube. Eine Überzeugung, die Paulus mit der apostolischen Botschaft auf den Punkt gebracht hat: «Lasst euch versöhnen mit Gott.» Ist das nicht der Kern von allem, geht mir durch den Kopf?
Wenn ich mir als ehrlich suchender Leser überlege, dass die Selbstreproduktion der Kirche ja kaum noch funktioniert (also die authentische Weitergabe des christlichen Glaubens in den Familien), ist der Denkansatz des Autors tatsächlich bedenkenswert. Ich fühle mich herausgefordert zu überlegen, was denn handfeste Gründe sind, warum wir an Gott glauben sollen und warum wir die Kirche brauchen. Die Lektüre geht weiter, ich komme darauf zurück in der nächsten Folge.
Verfasst von Tom Sommer
interessant, dass ein deutscher theologe aus der evanglisch-lutherischen kirche, in der meines wissens das nachsprechen des apostolischen glaubensbekenntnisses nachwievor dazugehört, in gewisser weise von der bekenntnisfreiheit unserer evangelisch-reformierten kirche spricht. vor zehn tagen habe ich zu unserem verhältnis zum zeitgeist an verschiedene adressen geschrieben: „in der reformierten kirche des kantons aargau wird diskutiert, ob gott oder jesus christus ‚in der mitte‘ sein soll. weder der eine noch der andere: alles ist in der mitte: die frage, was im sinne der vereinigung von allem geschieht. alles aus allem. auch aus dem menschen, auch aus dem zeitgeist, auch aus dem heiligen geist. grundlegender aber – postspirituell – aus allem. das böse aus der summe aller einzelnen, nicht aus ihrer vereinigung. „damit gott sei alles in allem“ (1kor 15.28, vgl 13.9-12) und diese vereinigung von allem nicht unbedingt mit diesem tetragramm (ein wort mit vier buchstaben) benannt werden muss. die versöhnung von vernunft und offenbarung, theismus und atheismus, religion und nicht-religion. die integration der vielleicht einmal umgetauften kirche in ein umfassenderes, ohne dass ihr eigenes verloren geht. dazu gehört die zur bewahrung befreiende verheissung, dass die schöpfung, auch wenn sie zerstört wird, bewahrt wird. mein beitrag dazu: metapedition: durch die fussumkehr mit der zeit oder mit der ewigkeit zur gesamtumkehr. ein unterbegriff des oberbegriffs meditation, die ja auch auf einem stuhl möglich ist, so dass die füsse nicht verkehrt sind wie bei lotussitz (padmasana, pad, pes, fuss) oder einer seiner nebenformen. vom rawdogging, dem vor sich hinstarren statt aufs handy, wird gesagt, das sei doch meditieren. dieses wort verbreitet aber nicht immer eine gute stimmung: etwas brav-vornehm – es sei denn man versteht es als werden wie ein tier. und rawdogging auch als smoothcatting. zwar bin ich in unsere kirche hineingeboren, bin aber auch überzeugt dabei: gerade weil in dieser kirche gesagt werden darf, was ich hier sage.